Donnerstag, 12. November 2009

Ist Depression eine Krankheit?

Angeblich leiden bis zu vier Millionen Deutsche unter einer "behandlungsbedürftigen Depression". Bedeutet das wirklich, dass ihr Hirnstoffwechsel in Unordnung geraten ist? Dann müsste wenigstens erklärt werden, warum die Transmittersubstanzen zwischen den Synapsen in den vergangenen Jahrzehnten anders geflossen sind.
Das Reden über Pathologisierung ist vermintes Gebiet. Am heftigsten verteidigen sie die Betroffenen selbst, weil sie vermutlich glauben, man wolle ihnen ihr Leiden absprechen, wenn man darauf hinweist, dass ADHS, Depression und auch Legasthenie keine Krankheiten sind wie Krebs oder Grippe, sondern ein Bündel von Symptomen und es durchaus möglich wäre, ein anderes Bündel zu schnüren. Darauf herumzureiten ist nicht kleinlich, sondern nötig, um herauszufinden, wie denn den Depressiven am besten geholfen werden soll.
Der Spiegel referiert nun folgende Erkenntnisse über den "depressiven Realismus".
Einige Forscher glauben, dass Depressive in gewisser Weise und in bestimmten Situationen die Welt eigentlich sogar realistischer wahrnehmen als Nicht- Depressive. Diese Einschätzung basiert auf einem simplen Experiment: Versuchspersonen müssen hin- und wieder eine Taste drücken, ab und zu geht eine Glühbirne an. Die Versuchsleiter kontrollieren, ob das Drücken der Taste tatsächlich einen Einfluss auf das Leuchten des Lämpchens hat, und wenn ja, wie groß der Zusammenhang ist. Bei manchen Probanden geht die Lampe einfach in zufälligen Abständen an, der Tastendruck hat keinerlei Einfluss darauf.
Nicht- depressive Patienten schätzen nach einem solchen Experiment ihren eigenen Einfluss auf das Leuchten des Lämpchens regelmäßig zu hoch ein. Selbst wenn es gar keinen Zusammenhang geben sollte, glauben viele, ihr Tastendruck hätte zumindest gelegentlich zum Aufleuchten beigetragen. Sie erinnern sich gewissermaßen bevorzugt daran, wenn ihr Tastendruck mit dem Lichtschein zusammenfiel.
Depressive Probanden dagegen sind in ihren Einschätzungen über den Zusammenhang erstaunlich genau - sie bilden sich nicht ein, etwas zu beeinflussen, wenn sie das gar nicht tun. "Dieses offenkundige Händchen von Depressiven, sich (...) in ihren Einschätzungen nicht irreführen zu lassen, hat man 'Depressive Realism' genannt", schrieben Lorraine Allan von der McMaster University in Hamilton, Kanada, und ihre Kollegen im Jahr 2007 in einer Studie zum Thema ...(The Quarterly Journal of Experimental Psychology, März 2007).

Nun würde ich diese Studie nicht allzu hoch hängen wollen, aber es stellt sich doch die Frage - mir wenigstens stellt sie sich! - ob die vier Millionen Depressive nicht doch unter den realitätstauglichen Gefühlen von Zukunftsangst, Überforderung und Erschöpfung leiden (wie es beispielsweise Alain Ehrenberg beschrieben hat). Was sich mit Antidepressiva nun einmal schlecht behandeln lässt.

Ergänzung - Dazu passt eine Umfrage der linksradikalen Bertelsmann-Stiftung:
Die unsicheren wirtschaftlichen Verhältnisse verschärfen die Situation: 52 Prozent der Menschen in befristeten Arbeitsverhältnissen klagen über psychische Belastungen. Aber auch rein subjektiv erlebte Zukunftssorgen, wie arbeitslos (46 Prozent) und durch neue Technologien überflüssig (50 Prozent) zu werden oder im Fall von Arbeitslosigkeit keine neue Arbeit zu finden (41 Prozent), gehen mit einem erhöhten Risiko psychischer Beschwerden einher.
Selbst ohne Sorgen um die berufliche Zukunft haben schwierige Arbeitsbedingungen einen negativen Einfluss auf das Wohlbefinden: Wer mehr als fünf Tage die Woche arbeitet (42 Prozent) oder täglich einen Arbeitsweg von mindestens 30 Minuten zu bewältigen hat (38 Prozent), wird häufiger psychisch krank. Ebenso kann das Betriebsklima die Psyche beeinträchtigen. Dies trifft vor allem zu, wenn der Entzug von Vergünstigungen (47 Prozent), Abmahnungen (52 Prozent) oder Kündigung (49 Prozent) im Falle von häufigerer oder längerer Krankschreibung zu erwarten sind.