Samstag, 1. September 2012

Ich war noch jung damals und in Geschmack und Haltung keineswegs gefestigt, als ich an der Straßenbahnhaltestelle von einem Zwanzigjährigen mit Baseball-Kappe und Schnurrbart erst ausgiebig beäugt und dann im breiten Dialekt meiner Heimatstadt angesprochen wurde. Er stellte eine mir seitdem unvergessliche Frage.
So wie du rumläufst – was soll das eigentlich sein?
Dies nicht herausfordernd, sondern eher neugierig. Ich hätte versuchen sollen, ihm die vielen subkulturellen Versatzstücke zu erklären, die ich am Leibe trug. Oder wenigstens, was sie mir bedeuteten. Stattdessen murmelte ich "Ach, leck mich doch ...", denn das war in der Regel die beste Antwort, wenn man in Ludwigshafen von Unbekannten angesprochen wurde. Allerdings sagte ich es ziemlich leise, denn das war in der Regel die richtige Lautstärke, um nicht auf die Mütze zu kriegen.
Aber der Kollege wollte mir ja gar nichts tun. Er verstand einfach nicht, was ich meiner Mitwelt sagen wollte mit meinen Ansteckern, bemalten Halbschuhen und komischen Frisur. Für ihn passte das alles nicht zusammen.
Nach der Lektüre von Magnus Klaues Konkret-Artikel geht es mir wie ihm. Darin geht es, so viel habe ich verstanden, um das Wohnen zur Miete und den Hass auf Touristen, der angeblich in Berlin grassiert. Der Text besteht aus kulturhistorischen Versatzstücken, aus der Kolportage von Gerüchten aus der linken Szene und Klischees über die "alternative Lebenswelt". Der Mieter sei ein Bürger und zahlt fürs Dach überm Kopf, was ein Versprechen auf Befreiung sein soll. Aber das geht offenbar schief, und der Bürger-Mieter geht sich und den anderen Menschen immer mehr auf die Nerven. Über das Kreuzberger Milieu schreibt Klaue so, wie ich über, sagen wir mal: französische Investment-Banker schreiben würde. Ich habe keine Ahnung, wie die leben und ticken.
Aber Klaue zitiert grazil und aus dem Zusammenhang, erklärt im Vorübergehen den Arbeitskreis Kritische Geographie zu Volldeppen, um schließlich zum Ergebnis zu kommen, sowohl der Touristenhass, als auch die Kritik am Touristenhass seien irgendwie Ausdruck derselben Misere. Und all das (und mehr) gipfelt in der folgenden Fanfare:
Erst wenn die Einwohner der Alternativkieze erkennen, daß ihr eingebildeter Kosmopolitismus nur Multikulturalismus war, wenn sie sich also entscheiden, endlich bei sich selber auszuziehen, um bei sich selber anzukommen, wo immer das auch sei, könnten auch die Kreuzberger einmal zu Menschen werden. Es wird noch lange dauern.
Der Kreuzberger als Halb-Mensch, dabei aber humanistisches Pathos und Adorno-Jargon bis zum Abwinken – was soll das eigentlich sein?