Samstag, 10. November 2012

Über Traditionen des spieltheoretischen Denkens

Die Spieltheorie ist der mathematische Kern der gängigen (neoklassischen) Ökonomik. Muss das so sein - inwiefern entsprechen die spieltheoretischen Modellierungen dem neoklassischen Denken? Wie hingen Neoliberalismus und Spieltheorie historisch zusammen? Was kann der spieltheoretische Ansatz erklären, was nicht?

Meinen gegenwärtigen, ganz privaten Forschungsstand zur Spieltheorie und ihrer Geschichte gibt ein Artikel für die Züricher WOZ wieder, der diese Woche erschienen ist: "Wenn das Modell die Realität bestimmen will".
Kaum eine wissenschaftliche Methode war so erfolgreich: Seit John von Neumann und Oskar Morgenstern im Jahr 1944 die Grundlagen der Spieltheorie schufen, eroberte sie die Psychologie, Soziologie, die Politikwissenschaften und die Biologie. Ihre eigentliche Domäne aber sind die Wirtschaftswissenschaften. Gerade wurden zwei Spieltheoretiker wieder mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt. Insbesondere in der Mikroökonomie regiert sie fast unangefochten die Lehrstühle: Mathematisch exakt berechnet sie, was optimal sein soll – scheinbar neutral, ahistorisch und voraussetzungslos. Tatsächlich verbergen sich in ihren Grundannahmen und Modellen durchaus normative Annahmen, insbesondere über das menschliche Verhalten.
Ich versuche in dem knappen Text auch plausibel zu machen, dass eine angemessene Kritik der Spieltheorie nicht bei der Frage des Nutzens stehen bleiben darf. Vielmehr muss sie kritisieren, wie die Interaktion zwischen strategisch handelnden Menschen gefasst wird - was also "Rationalität" und "Kooperation" eigentlich spieltheoretisch bedeuten. Denn die gängige Kritik moniert vor allem den reduktionistischen Begriff von Nutzen, der letztlich an Geldbeträgen modelliert ist. Nutzen gilt als unendlich teilbar und übertragbar, der x-Wert für Freundschaft soll y Faulheit und z Schokolade entsprechen.
Das ist tatsächlich keine "heuristische Vereinfachung", sondern ein Hirngespinst. Aber die ebenso fragwürdigen Prämissen der Spieltheorie über die menschliche Interaktion sind weit weniger beachtet worden. Hier geht es nicht darum, was die Spieler angeblich wollen, sondern darum, was sie können, was ihnen zuzutrauen ist.
Das ist keine scholastische Frage, sondern hat weitgehende politische Konsequenzen. Für Spieltheoretiker können beispielsweise Gemeingüter nur tragisch enden. Ausschließlich Situationen, in denen eine äußere Macht Verhaltensregeln durchsetzt und die Kosten dafür übernimmt, sind als "kooperativ" definiert. Damit steht die Spieltheorie nicht nur in der Tradition Adam Smiths, der dem egoistischen Markthandeln zutraute, als unsichtbare Hand die Gesellschaft zum Wohle aller zu ordnen. Sie fragt vielmehr mit Thomas Hobbes, wie gesellschaftliche Regeln entstehen und sich erhalten können. "Jeder Vertrag ist nur kraft seiner seiner Nützlichkeit gültig; fällt diese weg, so wird auch der Vertrag hinfällig und verliert seine Gültigkeit", postulierte Spinoza im Jahr 1670. "Darum ist es töricht, von einem anderen ewige Treue zu fordern, wenn man nicht gleichzeitig dafür sorgt, dass ihm aus dem Bruch des abzuschließenden Vertrages mehr Schaden als Nutzen erwächst." In einem fiktiven "Naturzustand" herrscht ein Krieg aller gegen alle.
Dieses Gesellschafts- und Menschenbild ist nicht nur für blauäugige Idealisten schwer auszuhalten. Als unhinterfragter Ausgangspunkt der Spieltheorie kann er nur zu kontrafaktischen Ergebnissen führen, sobald es um mehr geht als Auktionen zu planen. Mir wäre es auch sympathischer, diesen Aspekt kritisch herauszustellen: Statt die Spieltheoretiker anzuklagen "Ihr dürft menschliches Handeln nicht auf mathematische Operationen reduzieren!", würde ich darauf hinweisen: "Ihr liegt mir euren Beschreibungen und Prognosen offensichtlich falsch."

Soweit erstmal. Fortsetzung folgt.