Freitag, 20. September 2013

Ungleichheit macht krank


Heute wurde, wie allgemein erwartet, im Bundesrat der Entwurf für ein Präventionsgesetz beerdigt. Gestern erschien unter dem Titel "Arm, dick, krank – und selber schuld?" in der Wochenzeitung ein Text von mir über Sinn und Unsinn der medizinischen Prävention.
Vorbeugen ist besser als Heilen – individuelle Verhaltensänderungen sollen Volkskrankheiten wie Diabetes zurückdrängen. Dieser Ansatz ist nicht nur medizinisch zweifelhaft, sondern verstärkt auch soziale Ungleichheit.

Der Titel ist hübsch, mein ursprünglicher Vorschlag war allerdings, in Anspielung auf die schöne Formulierung von Brecht, "Einfache Therapien, schwer zu machen." Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck stehen ja tatsächlich im Zusammenhang mit koronaren Herzerkrankungen, einer häufigen Todesursache. Vorbeugung wäre da eine gute Sache – nur wie?

Die offizielle Gesundheitspolitik verengt "Prävention" auf einen gesunden Lebensstil, für den die Betroffenen auch noch selbst zuständig sein sollen, oder auf medikamentöse oder diagnostische Maßnahmen, durchgeführt von medizinischen Fachleuten. Beides verspricht keinen Erfolg. Aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive gäbe es aber noch eine weitere Möglichkeit: eine konsequente Verhältnisprävention.

Sie würde ein wesentliches pathogenes Übel an der Wurzel packen: die gesellschaftliche Ungleichheit. Medizinische Kunstfertigkeit wäre gar nicht nötig, um Mortalität und Morbidität zu senken, um die Lebenszeit zu verlängern. Es wäre es völlig ausreichend, Reichtum umzuverteilen, Existenzsorgen abzumildern und die Arbeitszeit zu verkürzen. Ganz einfach. Aber schwer zu machen.

An der im WOZ-Artikel erwähnten Studie "Look Ahead" über die Wirksamkeit der Verhaltensprävention nahmen 5145 Diabetiker teil. Ein Nutzen konnte nicht nachgewiesen werden. Mitte der 1960er Jahre wurde in einer Studie der US-amerikanischen Veteranen-Behörde die Wirkung von blutdrucksenkenden Medikamenten getestet. Sie umfasst lediglich 140 Teilnehmer. Die Hälfte von ihnen bekam ein blutdrucksenkendes Medikament, die anderen ein Placebo. In der unbehandelten Kontrollgruppe erlitten innerhalb anderthalb Jahren 27 Menschen kardiovaskuläres Ereignis, zum Beispiel einen Schlagfall. In der medikamentös behandelten Gruppe war es nur ein einziger.

Number Needed to Treat (NNT) ist ein statistischer Wert, um den medizinischen Nutzen einer Therapie zu beurteilen. Sie ist anschaulicher als Prozentzahlen über relative Risikoveränderungen. In der Bluthochdruck-Studie lag die NNT bei 1,4. Die Behandlung nutze also etwa zwei von drei Patienten. In der Diabetes-Studie lag sie über 5145. Bei primärpräventiven Therapien wie der Früherkennung ist die NNT-Zahl oft dreistellig, teilweise vierstellig. In einer Studie mussten beispielsweise zweitausend Frauen am Mammographie-Screening teilnehmen, um einen Todesfall durch Brustkrebs zu verhindern.

Deshalb werden primärpräventive Maßnahmen häufig in umfangreichen Studien untersucht: Immer mehr Menschen müssen untersucht und behandelt werden, um zu zeigen, dass Patienten profitieren können. Je leichter die Symptome und je niedriger die Grenzwerte, ab denen Menschen als behandlungsbedürftig erklärt werden, desto schwerer fällt dieser Nachweis. Der Grenznutzen der medizinischen Neuerungen nimmt ab: Mehr Aufwand vermindert die Krankheitslast nicht mehr wie früher.

Dass Vorbeugung der Heilung überlegen sei, ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Wer sie bestreitet, stellt sich an den Rand der öffentlichen Debatte, sozusagen zu den Bachblütenschnüfflern. Die Überzeugungskraft des Präventionsgedankens beruht zu einem Gutteil auf nur einer furchtbaren Krankheit: Krebs. Der ist heimtückisch, versteckt sich über Jahrzehnte und schreitet unentdeckt voran, um dann erbarmungslos und von medizinischen Rettungsversuchen unbeeindruckt zu töten. Ganz verständlich und vernünftig also, wenn Betroffene und Ärzte Neubildungen möglichst früh erkennen und bekämpfen wollen. Aber so einleuchtend die Idee mit der Früherkennung klingt, so schwierig ist sie praktisch.

In seinem neuen Buch beschreibt Gilbert Welch, ein einflussreicher amerikanischer Mediziner und Experte für Vorsorgeuntersuchungen, warum der Ausdruck "Früherkennung" im Zusammenhang mit Krebs missverständlich ist. Bei 16 von 100 Amerikanern wird ein Prostatakrebs diagnostiziert. Offenbar gibt es aber sehr viele Männer, die Prostatakrebs haben, aber keine Symptome zeigen. Eine amerikanischen Studie mit Unfallopfern von 1996 fand bei 80 Prozent der Männer, die älter als 70 Jahre waren, Krebszellen in der Prostata. Aber auch viele junge Männer hatten offenbar Krebs, nämlich knapp jeder zehnte! Aber in den USA sterben nur drei von einhundert Männern an Prostatakrebs. „Wer sucht, der findet!“, sagt der Volksmund. Hinweise auf Prostatatakrebs liefern bestimmten Antigene im Blut (PSA). Ist die Konzentration erhöht, wird eine Gewebeprobe entnommen. Im letzten Jahrzehnt wurde aber der PSA-Grenzwert dreimal abgesenkt und immer detailliertere Gewebeproben genommen. Ein Screening der gesamten Bevölkerung würde ermitteln, dass Millionen Männer den Krebs in sich tragen. Aber wäre das wünschenswert? Manche entartete Zellen wachsen nur langsam oder auch gar nicht. Nur für die Betroffenen, die das Glück haben, alt genug zu werden, wird der Prostatakrebs überhaupt zu einem Problem. Das gleiche gilt übrigens für Diabetes: Wer an ihr stirbt, ist älter als der Durchschnitt.

Auf diesem Blog kann ich mir ja erlauben, einmal wild zu spekulieren - woher kommt das eigentlich: Warum nimmt der medizinische Grenznutzen eigentlich ab? Warum muss die medizische Forschung immer mehr Aufwand betreiben, um mit der Krankheitslast nur Schritt zu halten? Die Medizin, allgemeiner: die staatliche Biopolitik hat offenbar eine Grenze ihrer Entwicklungsmöglichkeiten erreicht.

Ärzte sprechen von oft von der Progression einer Krankheit, ihrem "Voranschreiten". Gegen diese Progression setzt die Gesundheitspolitik die Prävention, abgeleitet vom lateinischen Ausdruck praevenire, zuvorkommen: Die Therapie ist schneller als die Krankheit, sie stellt sich dem sozusagen Krankheitsverlauf in den Weg. In dem Ausdruck „Progression“ steckt die Vorstellung, die pathologische Entwicklung folge einem festgelegten Weg, als sei die Krankheit ein regelhafter, in abgrenzbaren Phasen verlaufender Prozess. Aber das ist nicht wahr.

Alle Volkskrankheiten sind multifaktoriell: Krebs, Alzheimer, kardiovaskuläre Krankheiten haben nicht die eine, sondern viele verschiedene Ursachen und viele verschiedenen Formen. Zu allem Überfluss und medizinischem Überdruss durchdringen die schwächenden Einflüsse einander, ohne dass wir verstehen würden, wie diese zusammenwirken. An den regelmäßig verkündeten und ebenso regelmäßig widerrufenen Ernährungsempfehlungen – mehr Brokkoli, ein Glas Rotwein am Tag, möglichst viel ungesättigte Fettsäuren etc. – wird deutlich, wie wenig wir in Wirklichkeit immer noch wissen.

Die Volkskrankheiten sind degenerativ. Körperliche Funktionen des Zellwachstums, der Immunabwehr oder des Stoffwechsels funktionieren nicht mehr, sie entgleiten, physiologische Kompensationsmechanismen versagen. Diese Funktionsstörungen zu einer bestimmten Krankheit zusammenzufassen, ist in gewisser Weise missverständlich. Je mehr wir wissen, desto problematischer werden ätiologische Abgrenzungen. "Pocken", das war eine Virusinfektion, die bestimmte körperliche Reaktionen auslöst. "Typ 2 Diabetes" dagegen bezeichnet nicht mehr, als dass die Regulation des Blutzuckers nicht mehr richtig funktioniert, eine Störung der Glukoseregulation. Welche biophysiologische Gestalt diese Störung hat, darüber ist nichts gesagt. Der einflussreiche englische Diabetologe Edwin Gale spricht deshalb in einem aktuellen Artikel von Diabetes als einer "Krankheit auf der Suche nach einer Definition". Und der populäre amerikanische Onkologe Siddhartha Mukherjee betont: „Krebs ist nicht eine Krankheit, sondern viele Krankheiten.“ Ihr einziges gemeinsames Wesensmerkmal ist abnormes Zellwachstum.

Das mag den offensichtlich abnehmenden Grenznutzen der medizinischen Neuerungen erklären. Mit den ansteckenden Krankheiten hatte die Medizin einen Gegner, den sie in der offenen Feldschlacht herausfordern und besiegen konnte, mit Hygiene-Maßnahmen, Impfungen, Antibiotika. (Und möglicherweise war auch das nur ein kurzer Vorsprung, den die Viren und Bakterien evolutionär einholen werden.) Die degenerativen Krankheiten sind ein ungleich mächtigerer Gegner. Auf welche Art der Stoffwechsel bei Diabetes oder die Zellbiologe beim Krebs gestört sind, ist immer noch rätselhaft und zielgerichtete Therapien daher nicht in Aussicht. Immer seltener produziert der medizinische Fortschritt bessere Interventionen, dafür immer häufiger genauere Untersuchungsverfahren. Er ist weniger pharmakologisch als medizintechnisch: Mit neuen Diagnose-Verfahren können immer kleinere pathologische Vorgänge beobachtet und immer flüchtigere Biomarker nachgewiesen werden. Das bedeutet aber gerade nicht, dass es entsprechende Möglichkeiten gäbe, medizinsch prophylaktisch einzugreifen.