Donnerstag, 10. Juli 2014

Wenn die Epidemien zurückkommen

Geschichte wiederholt sich nicht? Das scheint mir immer zweifelhafter, jedenfalls bezogen auf die Medizingeschichte. Augenblicklich wiederholt sich ein Muster, das im 19. Jahrhundert schon einmal auftrat: Krankheiten werden erst dann als problematisch wahrgenommen, wenn sie an die eigenen Haustür klopfen.
Seit dem 18. Jahrhundert zogen sich die Infektionskrankheiten langsam aus Europa zurück. Sie verschwanden wohlgemerkt nicht ganz, aber sie traten seltener und weniger tödlich auf. Die schlimmsten Krankheiten waren Pest, Cholera und Tuberkulose gewesen, außerdem andere bakterielle Infektionen von Wunden, besonders solche, die bei Geburten entstanden. Vor allem die bessere Ernährungslage der Bevölkerung war der Grund, dass die Infektionen nicht mehr wie einst grassierten. Später kamen hygienische Maßnahmen wie die städtischen Wassersysteme dazu, noch später Antibiotika wie Penizillin.
Aber heute sind die Infektionen wieder auf dem Vormarsch zurück, nach Europa. Die WHO stellte kürzlich sogar die bange Frage, ob uns ein "post-antibiotisches Zeitalter" bevorsteht. Resistente Bakterien verbreiten sich, darunter auch die Tuberkulose. In der New York Times von gestern analysiert Polly Price das Problem, mit einem starken Fokus auf die USA, aber auch hierzulande von Bedeutung. Sie weist darauf hin, dass sich Resistenten häufiger werden und dass dies nicht zuletzt ein wirtschaftliches Problem sei:
The World Health Organization reports around 500,000 new drug-resistant cases each year. Fewer than half of patients with extensively drug-resistant tuberculosis will be cured, even with the best medical care. The disease in all its forms is second only to AIDS as an infectious killer worldwide. ... Extensively drug-resistant tuberculosis requires 18 to 24 months of treatment and can cost more than $500,000. A local health department’s entire budget can be depleted with just one case.
Hier lohnt sich Prävention tatsächlich einmal, ist die Vorbeugung besser als das Heilen. Überzeugt das? Es war auch im 19. Jahrhundert keineswegs Menschenfreundlichkeit, die die städtische Bourgeoisie im 19. Jahrhundert dazu bewegte, "Geld in die Hand zu nehmen" und etwas gegen die "Pesthöhlen" zu unternehmen, die Elendsquartiere, wo etwa die Cholera ihr Reservoir fand. Es war Eigeninteresse, weil die Epidemien von den Slums in die bürgerlichen Viertel schwappten. Allerdings war es damals nur eine Minderheit, die so viel Einsicht zeigte. Und auch dies könnte sich wiederholen:
In Jackson County, Ohio, voters last year were asked to approve a tax to continue to fund the county’s tuberculosis prevention and treatment program. In an effort to ensure approval, tax commissioners reduced the levy, leaving just enough to keep the program going. Voters still rejected it, 3,363 to 3,195. As a result, the health department had to cut the program’s public health nurse and a clerical assistant.

Infektionen haben die bemerkenswerte Eigenschaft, die Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft wieder in Erinnerung zu bringen. Denn während die Welt ansonsten so wunderbar eingerichtet wird, als wäre jeder allein seines Glückes Schmied und müsse sich für das Schicksal des anderen nicht ein Stück interessieren, wandern die Viren und Bakterien unfehlbar von einem zum anderen. Sie machen den gesellschaftlichen Charkater augenfällig, den unerwünschten Zusammenhang einer arbeitsteiligen Gesellschaft der Eigentümer.
Wie schnell diese Haltung angesichts der Infektionen in den Irrsinn führt, lässt sich an den Impfkritikern beobachten. "Herdenimmunität" bedeutet, dass die Zahl der Erkrankungen insgesamt sinkt, auch wenn einzelne Geimpfte nicht profitieren. Es handelt sich also um einen emergenten sozialen Effekt des individuellen Handelns - der daher von Impfkritikern geleugnet wird. Damit verwandt ist die uralte Stigmatisierung der "Keimträger". Eine vernüftige Bekämpfung der Infektionen scheitert immer wieder an diesem Widerspruch - bis heute.